Ein Abschiedsgruß an meine Mutter...
Du hast die
Koffer für deine letzte Reise gepackt.
Der Abschied
fällt uns schwer, doch wir lassen dich
los.
Uns bleibt
das Bewusstsein deines erfüllten Lebens
und die
Erinnerung an viele schöne Stunden.
Ihr Lieben,
einige von euch haben es schon im Update zu meinem vorigen Blogbeitrag
gelesen oder durch WhatsApp von mir erfahren: Am späten Abend des 12.
Dezember erhielten wir die Nachricht vom Pflegeheim, dass meine Mutter
verstorben ist. Trotz der vielen Vorsichtsmaßnahmen und zeitweiligen
Besuchssperren hat es Covid19 geschafft, in das Heim einzudringen und
dort mehrere Bewohner zu befallen. Eine von ihnen war meine Mutter. Vielen Dank an alle, die mir im Blog oder auf WhatsApp schon herzliche Zeilen hinterlassen haben.
Ich
werde euch am Ende meines heutigen Postings von meinem letzten Besuch
bei ihr berichten. Doch als allererstes möchte ich mit euch gemeinsam
einen Blick auf ihr Leben werfen, denn diese Beschäftigung hilft
mir dabei, mit meiner Traurigkeit umzugehen. Und sie wird auch euch zeigen, weshalb der Tod letztendlich eine Erlösung für meine Mutter war.
Nach dem Tod meines Vaters vor fast vierzehn Jahren war es für mich die beste Therapie, mich kreativ mit seinem
Leben auseinanderzusetzen. Ich bastelte damals eine Schautafel mit
Stationen seines Lebens für die Einäscherungszeremonie - und gestaltete
außerdem ein Erinnerungsfotobuch, in das ich auch Teile seiner
Tourenbuch-Aufzeichnungen aufnahm. (Ich habe euch
hier und
hier darüber
erzählt.) Dadurch wurde mir stärker als zuvor bewußt, wie reich und
erfüllt sein Leben gewesen war.
Und so ähnlich ist es auch bei meiner Mutter...
Hildekind:
Doch bevor ich darauf näher einzugehen beginne, als allererstes eine Erklärung für den Titel meines heutigen Posts:
Schon als Teenager habe ich begonnen, meine Eltern
"Dicky" und "Hildekind" zu nennen. (
"Dicky" inspiriert vom damals recht dicken Bauch meines Vaters und dem amerikanischen Kurznamen Dick
- und
"Hildekind" inspiriert vom Kosenamen der Schauspielerin
Hildegard Knef und von dem Gefühl, dass ich im Vergleich zu meiner manchmal ein bisschen naiven Mutter "die Ältere" war).
Das hatte sich einfach irgendwann so ergeben und war für den
Rest ihres Lebens so geblieben. Meine Eltern standen dazu: Als Edi und ich heirateten,
unterschrieben sie sich z.B. auf der Glückwunschkarte mit diesen
Spitznamen, auf Urlaubspostkarten taten sie das ebenfalls 😊.
Meine Jugendfreunde beneideten mich
teilweise um meine "coolen" und humorvollen Eltern. Nicht, dass wir
niemals Konflikte gehabt hätten - vor allem, als es um meine Ausbildung
ging, flogen die Fetzen und es gab auch davor und danach Reibereien (die
größtenteils mit dem Sicherheitsdenken der Kriegsgeneration und meinem
kreativen Drang zu tun hatten - und damit, dass ich in den Augen meiner
Mutter gewisse Ähnlichkeiten mit ihrer Schwiegermutter besaß...) - doch
großteils hatten wir ein kameradschaftliches Verhältnis zueinander.
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Hildekind - 7. Juni 1926 - 12.
Dezember 2020 |
Meine "Therapie":
Als sie im Jahr 2012 ihre Wiener Wohnung verließ, um fortan in einem Seniorenheim-Apartment zu leben, gab mir meine Mutter jede Menge Einsteck-Alben zur Aufbewahrung. Diese enthielten vor allem Fotos ihrer Reisen, die sie im Lauf der Jahre mit meinem Vater unternommen hatte. Ich bewahrte sie in unserem Keller auf, schaffte es aber nicht, mir diese Fotos anzusehen Und vielleicht war das gut so. Dadurch war der Eindruck jetzt, als ich mir die Alben durchblätterte, umso frischer und stärker. Einige dieser Bilder werde ich euch heute vorstellen, denn sie zeigen euch die unternehmungslustige Frau, die sie einmal war.
Ich besitze auch viele Bilder aus ihrer Kindheit, teilweise von professionellen Fotografen in einem Studio angefertigt, teilweise von meinem Großvater, der in jüngeren Jahren selbst gern fotografiert hat und der seine Kamera samt Stativ auch zu allen möglichen Familienausflügen mitnahm. Hier seht ihr ein paar der Impressionen von damals:
Der Anfang der Lebensgeschichte:
Meine Mutter Hilde (eigentlich: Hildegardis) war die erste von zwei Töchtern von Adolf und Hilda Hauke. Ihre Schwester Traude wurde drei Jahre später geboren - im Jahr 1929. Hilda (meine "Kleine Oma") hatte kein Händchen fürs Glück. Sie arbeitete den Großteil ihres Lebens in der Fleischhauerei (Metzgerei), die ihr ihre Eltern hinterlassen hatten, während ihre ältere Schwester Lehrerin werden durfte. Im kalten Laden fror sie sich ihre Beine; ihr Mann erkrankte an Multipler Sklerose. Alles, was die Fleischerei je eingebracht hatte, wurde durch die Behandlungkosten aufgefressen. Als mein Großvater starb, war er knapp über 60 und hatte seine letzen Jahre im Rollstuhl und im Wasserbett verbracht. Meine Großmutter war durch ihre gefrorenen, wunden Beine und ihr fortgeschrittenes Lipödem ebenfalls schon stark gehbehindert und außerdem relativ mittellos. Als sie mit etwa 80 starb, sagte meine Mutter: "Sie hat nie etwas gehabt vom Leben."
Das Dasein meiner Mutter wurde zu einem Gegenentwurf.
2. Weltkrieg:
Im Gegensatz zu ihrer Schwester war Hilde unbekümmert und keck - man sieht es an ihren Augen. Traude - meine Tante, deren Namen ich trage - habe ich leider nie kennengelernt. Sie wurde nur 16 Jahre alt, denn sie starb 1945 beim letzten Luftangriff über Wien. Meine Mutter erzählte mir: "Wir sind beide um unser Leben gerannt. Ich habe es geschafft, sie leider nicht. Ich glaube, ich habe den stärkeren Überlebensinstinkt gehabt." Zusammen mit ihrer Mutter musste sie dann nach der Leiche ihrer Schwester suchen und verschiedene Tote umdrehen, bevor sie sie identifizieren konnten.
Auch ihr Lieblingsonkel und ein paar Freunde starben im Krieg. Als ich sie fragte ob das nicht alles furchtbar für sie gewesen war, antwortete sie: "Natürlich war das schlimm. Aber - mein Gott, wir waren jung. Das Leben war ein großes Abenteuer - wir haben gewußt, dass es jederzeit vorbei sein kann. Wir mussten es auskosten, wir haben nur im Jetzt gelebt."
Berufsleben:
Das Foto rechts oben stammt aus dem Jahr 1939, da war Hilde 13. Vier Jahre später, inmitten des Krieges, begann meine Mutter eine Pflegeschwesternausbildung im Krankenhaus Lainz. Damals wurden Lazarett- und Krankenschwestern heroisiert, und die abenteuerlustige Hilde fasste den Plan, als Rotkreuz-Schwester nach Nordafrika zu gehen. Allerdings diagnostizierte man bei Hilde einen Herzfehler, was in diesem Fall "Untauglichkeit" bedeutete und den Traum von Afrika beendete. Dieser angebliche Herzfehler wurde danach nie wieder festgestellt...
Diese Ausbildung stellte später die Weichen für ihre erste Berufstätigkeit: Während der 1950er- Jahre bis in die frühen 1960er arbeitete meine Mutter als Arzthelferin bei einem Chirurgen - eine Arbeit, die ihr wegen ihres medizinischen Interesses und der Anerkennung durch den freundlichen Chef großen Spaß machte.
Als ich Ende 1961 geboren wurde, blieb sie ein paar Jahre lang Hausfrau. Zwischendurch gab es eine kurze Phase, wo meine Eltern zusätzliches Geld benötigten und daher einen Nebenjob annahmen: Am Sonntag frühmorgens stellten sie Zeitungsständer auf und abends holten sie sie wieder ab. Als ich acht war, nahm Hildekind einen Teilzeitjob im Spätdienst bei der Österreichischen Post an. Vier Tage pro Woche fuhr sie mit ihrem kleinen Fiat los, wenn mein Vater von seiner Arbeit nach Hause kam, und kehrte erst um Mitternacht nach Hause zurück. Mein Vater und ich waren bald ein eingespieltes Abend-Team. Die drei freien Abende meiner Mutter genossen meine Eltern immer ganz besonders. Diesen Job liebte sie nicht ganz so sehr wie den beim Chirurgen (und als sie pflegebedürftig wurde, konnte sie sich auch nur noch an die Arbeit bei dem Arzt erinnern, nicht jedoch an ihre vielen Jahre bei der Post), doch sie arbeitete sich dort in der Hierarchie allmählich hoch und blieb bis zu ihrer Pensionierung dabei.
Das Leben mit meinem Vater:
Bevor es mit dem Arbeitsleben losging, fing allerdings noch ein anderes Abenteuer an - 1946 lernte sie Fredl - meinen Vater - kennen, 1947 heirateten sie, 1948 kam mein Bruder zur Welt. Hier ein paar Blitzlichter aus ihrer fast 60 Jahre währenden Ehe.
Meine Mutter "testete" übrigens auf eine für sie typische Art und Weise, ob Fredl der Richtige für sie wäre. Kennt ihr eine "Klingelpartie"? Man läutet irgendwo an, wartet vielleicht noch ab, ob jemand darauf reagiert - und rennt dann davon. Ja ich weiß, das ist ein ziemlich pubertäres Verhalten und auch nicht sehr rücksichtsvoll, aber ich fürchte, in der Jugend denken manche nicht so weit. Genau das tat meine Mutter jedenfalls, als sie zum ersten Mal mit meinem Vater aus war, denn sie wollte wissen, wie er reagierte: Vorwurfsvoll? Vor Schreck erstarrt? Nein, mein Vater nahm es mit Humor, rannte mir ihr mit und nachher lachten sie alle beide in ihrem Versteck. Damit waren die Weichen gestellt. Eine Klingelpartie machten sie danach erfreulicherweise nicht mehr, aber ich habe viele wirklich lustige Geschichten aus ihren gemeinsamen ersten Ehejahren gehört.
Ab dem Zeitpunkt, wo mein Vater in ihr Leben trat, kann man die Geschichte meiner Mutter eigentlich nicht mehr ohne ihn erzählen (und umgekehrt). Nicht, dass einer der beiden wirklich unselbständig gewesen wäre: Mein Vater konnte selbst sehr gut kochen und Knöpfe annähen - er suchte keine Putzfrau, sondern eine Partnerin "zum Pferdestehlen" - und meine Mutter war ein freiheitsliebender, wilder Vogel, sehr emanzipiert für die damalige Zeit, das passte gut. Der Krieg war ausgestanden, jetzt wollten sie beide "der Welt einen Haxen ausreißen", wie man bei uns so schön sagt. Kurzfristig erwogen sie sogar, nach Australien oder Kanada auszuwandern, um dort ein neues Leben anzufangen, aber daraus wurde nichts - soweit ich weiß, weil mein Bruder zur Welt kam und sie es mit einem Kleinkind lieber doch nicht wagen wollten. Aber es gab genügend andere Abenteuer in ihrem Leben. In sein Fotoalbum, das ich später digitalisiert habe, schrieb mein Vater stolz "Meine Puppe* kann alles und ist überall dabei!"
* Auch wenn mein Vater seine Frau "meine Puppe" nannte, sprach er ihr nicht ihre eigene Persönlichkeit ab. Es ist so wie das englische "my baby" als Ausdruck für "Liebling" oder "Schatz" zu verstehen.
Gemeinsame Interessen:
Tanz war eine ihrer großen gemeisamen Leidenschaften, die sie bis ins hohe Alter betrieben. Aber das war noch längst nicht die einzige Gemeinsamkeit.
Meine Mutter war ein ausgeprägter Bewegungstyp; sie entpuppte sich daher als gelehrige Schülerin, als ihr mein Vater das Skilaufen beibrachte. Sie blieb (trotz dreier Beinbrüche) bis knapp unter 80 eine leidenschaftliche Alpin-Skifahrerin. (Dann entwickelte sie eine größere Angst vor Verletzungen und hörte damit auf - was meinen Vater dazu veranlasste, ebenfalls nicht mehr Skifahren zu wollen. Allein machte eben nichts so viel Spaß wie zusammen...)
Auch im Ski-Langlauf versuchten sich meine Eltern, sie spielten gern Tischtennis, waren beide begeisterte "Wasserratten", unternahmen Skitouren und viele größere und kleinere Radelpartien (Fahrrad-Touren) - kurz: ihre Freizeit war stark von sportlichen Aktivitäten geprägt. (Ins Theater oder Kino gingen sie allerdings auch recht gern 😉.)
Berg-Fexe:
Die Berge im In- und Ausland wurden von meinen Eltern praktisch zu jeder Jahreszeit erklommen. Es ist also nicht weiter verwunderlich, ...
... dass das erste Foto, das mein Vater von meiner Mutter aufnahm, bei einer Bergtour auf die Hohe Wand entstanden war und in seinem Tourenbuch klebte:
Ob ich wollte oder nicht, ich wurde meine gesamte Kinderzeit und Jugend hindurch ebenfalls auf Ausflüge in die Natur mitgenommen - und zwar an so ziemlich jedem Wochenende im Frühling und Herbst und manchmal auch dazwischen...
Ich bin immer wieder verblüfft, wie es meine
Eltern schafften, mich zu den (manchmal recht anstrengenden) Wanderungen zu überreden. Aber meine
Mutter erwähnte vermutlich Eichhörnchen, Schafe, Katzen oder andere Tiere, die wir dort sehen könnten - mit "Viechern" konnte sie mich immer locken. Und ich kann mich an Geschichten erinnern,
die mir mein Vater erzählte, vor allem, wenn irgendwo eine Burg oder
eine Ruine in der Nähe war: Es ging darin immer um Ritter und
Burgfräulein - ihre Namen waren zumeist Kunibert und Kunigunde. Manchmal kam auch ein Drache vor.
Wenn ich nicht weitergehen wollte, waren sie
allerdings auch nicht zimperlich: "Bleib nur auf dem Weg sitzen.
Irgendwann wird schon ein böser Mann kommen und dich mitnehmen." 😬
Nunja, ich glaube, ich
habe ihre Erziehungsmethoden ohne allzu großen Schaden überstanden. (Irgendeinen Schaden hat ja fast jeder aus seiner Kindheit... 😉) Wie
auch immer, ich bin meinen Eltern heutzutage sehr dankbar, dass
sie mich zum Wandern genötigt haben. Bei meiner Tochter ist mir das
leider nicht so gut gelungen - vermutlich, weil die moderne Erziehung
versucht, mehr Rücksicht auf die Wünsche der Kinder zu nehmen ...
Vielleicht ist das gar nicht immer so gut?)
Natur- und Tierliebe:
Auf dem großen Foto oben Mitte seht ihr, dass ich mir bei einer Berghütte eine Katze "gefasst" habe. Diese Liebe für "Viecher" habe ich offensichtlich auch von meiner Mutter geerbt:
Die Natur liebten meine Eltern gleichermaßen. Meine Mutter entwickelte sich im Lauf der Jahre zu einer Kräuterhexe, sammelte und trocknete Pflanzen für Tees und für die Küche, hielt bei weitem mehr von Homöopathie und Naturheilkunde als von Schulmedizin - und auch mein Vater begann schließlich damit, Ringelblumen- und Johanniskrautöle anzusetzen.
Ihre Freude an der Natur lebten sie auch bei ihren zahlreichen Camping-Urlauben aus - sommers wie winters. Die Geselligkeit kam dabei nicht zu kurz. Wobei ich sagen muss: Meine Mutter war zwar durchaus kontaktfreudig, aber mein Vater war der Meister im Sich-Freunde-Machen. Oder anders ausgedrückt: Sie konnte gut allein sein, er fühlte sich wohler mit Pubikum.
Auf dem Schwarzweißfoto unten seht ihr meinen großen Bruder, meine Mutter und mich im Vordergrund - das war einer unserer Urlaube an einem Kärntner See. Mein Vater war der Fotograf, und die anderen Leute im Bild waren eine Familie aus Frankreich und ein Ehepaar aus Deutschland, mit denen sich meine Eltern am Campingplatz angefreundet haben.
Reiselust:
Die ersten Reisen unternahmen meine Eltern samt meinem Bruder in den 1950ern mit einer traumhaften Puch-Beiwagenmaschine (siehe übernächste Collage links) und mit einem Zweimannzelt. Es ging nach Italien, Frankreich, ins damalige Jugoslawien, nach Deutschland und in die Schweiz. Später hatten sie dann einen VW-Käfer und dann eine Borgward Isabella, die stark genug war, um den ersten kleinen Wohnwagen zu ziehen.
Hier ein paar "Strandnixen-&Co.-Impressionen" von Campingurlauben. Das Moor befindet (oder befand?) sich übrigens in der Nähe des Keutschacher Sees in Kärnten. Das kleine dunkelhaarige Mädchen ist eine meiner Cousinen zweiten Grades:
In den späten 1970ern, als mein Bruder längst erwachsen und ich "Nachzüglerin" aus dem Gröbsten raus war, kamen zu den Campingurlauben auch Städteflüge und Fernreisen hinzu. Ihr seht hier z.B. meine Eltern in Amsterdam 1979, im damaligen Leningrad (zum eisig kalten Jahreswechsel 1987/88 🥶) und in Kreta 1990.
In China waren sie auch - siehe nächste Collage links oben! (Leider ließ sich nicht mehr feststellen, ob die China-Fotos von den späten 1980ern oden den frühen 1990ern stammen.) Daneben Amsterdam 1979, darunter 2 x Kreta 1990.
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Chinesische Mauer, nochmals China, Amsterdam |
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Im Uhrzeigersinn: Kuba (1993), Kuba, USA (1986), USA (vor dem Tor zum weißen Haus), Nord-Zypern (1992), Amsterdam
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Familie und Geselligkeit:
Hier ein paar Fotos aus dem Familienleben - mit meinem Bruder und einer Bekannten in den mittleren 1950ern / mit mir im Kinderwagen in den frühen 1960ern / und ich nehme an, das Baby in dem rot-karierten Kinderwagen war mein mittlerer Neffe in den späten 1970ern - also eines ihrer vier Enkelkinder.
Folgende Collage: Das Foto links oben entstand 1985 bei meinem Bruder (und erkennt ihr mein Seidengilet? Das trage ich auch heute noch!) / meine Mutter mit meinem Bruder vor dem Weihnachtsbaum in den 1950ern / meine Großtante, meine "große Oma", ich und meine Mutter bei einem Nikolaus-Krampus-Kränzchen Ende der 1960er (Hildekind und ihre Schwiegermutter waren einander übrigens "nicht grün") / in meiner ersten Wohnung Mitte der 1980er.
Fasching:
Meine Eltern hatten Spaß daran, sich zu verkleiden. Auf dem Wintercampingplatz in Türnitz, wo viele Jahre lang ihr Wohnwagen stand und wo auch ich mit ihnen zusammen viele Skiwochenenden und -urlaube verbracht habe, gab es alljährlich am Faschingdienstag einen Maskenlauf. Wenn es ihnen möglich war, waren sie dabei:
Abschiede:
Als mein Vater im Jänner 2007 an einem Herzinfarkt starb, war das die große Wende in ihrem Leben. Damals starb auch ein Teil meiner Mutter. Eine Zeitlang glaubte sie tatsächlich, sie würde ihm nachsterben, doch so einfach gestaltete sich ihr Schicksal nicht. Also machte sie weiter, aber sie wurde nie mehr wieder so unternehmungslustig, wie sie einst gewesen war.
Dann begann die Zeit der Stürze. Nach einem Sturz im Februar 2012 litt sie unter Blutungen im Gehirn und lag in der Intensivstation jenes Krankenhauses, in dem ich damals in der Buchhaltung arbeitete. Wir wussten nicht, ob sie jemals wieder auf die Beine kommen würde - die behandelnde Ärztin meinte, es wäre möglicherweise an der Zeit, von unserer Mutter Abschied zu nehmen.
Es sollten noch viele weitere Verabschiedungen folgen, denn von diesem Sturz erholte sich Hildekind verblüffend gut. Damals traf sie (überraschenderweise ganz von selbst) die Entscheidung, in ein Pensionistenheim zu übersiedeln. Bis es soweit war, organisierte ich ihr im Geriatrischen Tageszentrum des Krankenhauses einen Platz, wo sie zusammen mit anderen basteln, singen, turnen konnte, und für zu Hause bekam sie eine Heimhilfe.
Mitte Juli 2012 übersiedelte Hildekind ins
Seniorenheim. Mein Bruder besorgte neue Möbel für sie und half ihr dabei, das
Apartment hübsch, zweckmäßig und gemütlich einzurichten. Aber sie tat sich schwerer als erwartet, bereute ihre Entscheidung wohl schon, wollte kaum Kontakte knüpfen, hatte zu nichts wirklich Lust. Einzig und allein beim
Russischen Kegeln machte sie mit. Monatelang versuchte ich sie zu überzeugen, dass einer der Ausflüge, wie sie vom Heim aus regelmäßig veranstaltet
wurden, ihr bestimmt gut tun würde. ("Da fahren ja nur Alte mit!" sagte
sie.) Erst im Sommer 2013 fing sie an, ihre Eingewöhnungsschwierigkeiten zu überwinden. Sie nahm die fürchterliche Perücke ab, die sie im Heim zu tragen begonnen hatte, ließ sich beim Friseur einen kessen Schnitt verpassen und meldete sich endlich für eine
kleine Wienerwaldwanderung an.
In der unteren Collage seht ihr - neben zwei Fotos auf den frühen 1930ern, die mein Großvater aufgenommen hat - meine gut gelaunte Mutter mit ihrer neuen Frisur. Die Fotos waren die letzten, die ich
von ihr in körperlich und geistig weitgehend gesundem Zustand machen konnte. Sie stammen vom 25. August 2013, wo die ganze Familie zusammenkam, um die bestandene Konditor-Gesellenprüfung meiner Tochter Jana zu feiern.
Wenige Tage später - noch bevor sie am ersten Pensionisten-Ausflug hatte teilnehmen können, zu dem sie sich angemeldet hatte - stürzte sie. Sie wurde einige Tage lang in ihrem Apartment gepflegt, doch ihr Zustand verschlechterte sich und sie kam ins
Krankenhaus Lainz - also genau in jenes Spital, in dem sie 70 Jahre zuvor die Krankenschwesternausbildung gemacht hatte. Über diesen Krankenhausaufenthalt habe ich euch
HIER erzählt.
Pflegefall:
In der Folge "tingelte" sie (wegen Harnwegsinfekten, Austrocknung und allgemeiner Schwäche) durch zwei weitere Krankenhäuser und drei verschiedene Pflegeheime. Ihr Zustand war in dieser Zeit mehrmals "sehr, sehr kritisch", dann wieder "stabil" auf einem niedrigen Niveau. Selbst an guten Tagen konnte sich Hildekind bloß an wenige Dinge aus ihrem Leben erinnern (sie wusste z.B. nur noch, dass sie viele Reisen gemacht hatte, aber nicht mehr, in welche Länder), ihr Körper war schwach und ihre Beine bewegungsunfähig. Ein Schlaganfall, wie es unser Verdacht war, wurde von keinem Arzt
bestätigt. Nach Auskunft der Neurologen hatte sie eine Geschwulst im
Gehirn, die aber "wahrscheinlich" nicht für die Probleme verantwortlich
waren, möglicherweise waren ihre zerebralen Ausfälle schlichtweg die
Folge von Dehydrierung. Klarere Aussagen waren nicht zu bekommen. Die Mobilisationstherapie hatte man im Krankenhaus wegen eines neuerlichen Infektes hintangestellt. "Wir kämpfen um das LEBEN ihrer Mutter", sagte ein sehr "gestrenge" Ärztin damals zu mir, "da braucht sie keine Physiotherapie!"
Es klingt vielleicht für manche von euch schlimm, aber es entspricht dennoch der Wahrheit: Ihr "Leben" wurde zwar gerettet - dennoch starb damals der Großteil jener Frau, die einmal meine Mutter war. Ich weiß, dass die aktive Frau, die sie einmal war, nicht gewollt hätte, dass man um diese Art von Dasein kämpfte. Es war ab und zu ein Thema gewesen, über das wir miteinander sprachen. "Bevor ich so ende, bringe ich mich lieber um", hatte sie gesagt. Aber es geht oft so schnell mit der eigenen Hinfälligkeit, dass man das nicht mehr zuwege bringt. Ein Teil von ihr war jedoch noch da - ich habe es für mich so formuliert: "Jetzt ist sie wirklich mein Hilde-KIND..." Und dieser Teil war sehr liebenswert.
Nach mehreren Wochen (oder Monaten?) wurde ein Pflegeplatz in ihrem "Stamm-Heim" frei. Das Apartment mussten wir binnen weniger Tage räumen - es war klar, dass sie dorthin nie mehr zurückkehren würde. Mehr als sieben Jahre lang war sie in der Folge ans Bett gefesselt, das Leben
sickerte sehr, sehr langsam, aber kontinuierlich aus ihr heraus. Trotzdem ertrug sie das alles mit einer unendlichen Geduld, die sie früher nicht gehabt hatte. Als es ihr noch etwas besser ging, wurde sie ab und zu in den großen, weichen Rollstuhl gesetzt, den ihr oben seht, und in den Gemeinschaftsraum gebracht. Das Familienfoto entstand 2016 zu ihrem 90. Geburtstag. Wir besuchten sie so oft wie möglich, denn das war der einzige Lichtblick, der ihr noch blieb - bis zu den Covid-Sperren war fast täglich jemand von unserer Familie bei ihr, und wir versuchten ihr wenigstens ein bisschen Lebensfreude mitzubringen.
Langsames Verblassen, Verblühen, Erlöschen...:
An manchen Tagen konnten wir plaudern (wobei sie selbst meist nur ein paar Worte sprach) oder ihr Fotos zeigen, an anderen Tagen massierte ich ihr sanft die Füße oder Hände, doch eines Tages wollte sie das nicht mehr. Ihre Füße fühlten nichts und ihre Hände wurden mehr und mehr zu schmerzenden Klauen, deren Fingernägel sich in den Handballen borte und dort Entzündungen verursachte. Die Schwestern schafften es kaum noch, ihr die Nägel zu schneiden, weil sich ihre Finger nicht (oder nur unter Qualen) aus der Verkrampfung lösen ließen. Die
Pfleger und Pflegerinnen kümmerten sich wirklich gut um Hildekind. Aber
bewegsunfähig zu sein, gewickelt und gefüttert werden zu müssen, das
war für meine Mutter immer ein Albtraum gewesen. Nicht umsonst hatte sie schon einige Jahre
zuvor eine Patientenverfügung verfasst und
unterschrieben, in der sie künstliche Lebensverlängerung, das Setzen einer
Magensonde etc. ablehnte.
An den guten Tagen lächelte sie uns zuliebe oder versuchte es zumindest. Doch es gab auch Tage, an denen sie nur apathisch in ihrem Bett
lag, auf der luftgefüllten Matratze, die verhindern sollte, dass sie
sich wundlag. Auf der Nase und bei den Lippen bekam sie im Lauf der Jahre zwei Krusten, die immer wieder aufbrachen (mutmaßlich Hautkrebs - die Schwestern im Heim warnten uns, dass man ihr im Krankenhaus unter Umständen Teile der Lippe wegschneiden würde. Wir verweigerten eine solche Behandlung.)
Alle paar Monate - mindestens einmal pro Jahr - ging es ihr so schlecht, dass man uns schonend auf ihren Tod vorbereitete. Im Heim wurde die Patientenverfügung akzeptiert, man fühlte sich aber verpflichtet, ein Minimum an Maßnahmen zu setzen. Sie wurde an den Tropf gehängt, bekam aufpäppelnde Astronautennahrung und ab und zu Sauerstoff - und rappelte sich jedes Mal wieder auf.
Vermutlich besaß sie noch immer denselben Überlebensinstinkt wie 1945. Einerseits freuten wir uns darüber, dass sie uns noch ein Weilchen blieb, andererseits wurde ihr Leiden dadurch nur verlängert.
Und jedes Mal war danach ein weiteres Stück von ihr verschwunden, sie nahm immer weniger Anteil an den Dingen, die wir ihr erzählten oder zeigten und reagierte immer weniger auf Fragen. Oft schlief sie während unserer Besuche ein, denn eigentlich war sie
nur noch müde.
Astrid beschrieb in einem Kommentar den innerlichen Rückzug alter Menschen einmal sehr treffend:
"Es kam mir immer vor wie bei den Tulpenzwiebeln, wenn die schöne Blume verblüht ist und ihre Kräfte einzieht." |
Fotos von 2020 - links oben vor der Covid-Sperre, alle anderen nach der ersten Covid-Sperre des Heims.
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Das Ende vom Lied:
Im Zuge der zweiten Coronawelle durfte sie zunächst niemand besuchen, ab etwa Mitte November wurde es dann einer Person pro Bewohner*in gestattet, einmal pro Woche mit FFP2-Maske zu Besuch zu kommen. Da mein Bruder in der Nähe des Heims lebt, einigten wir uns darauf, dass er diese Person sein darf. Die Versuche, die Patienten vor dem Virus zu beschützen, indem man Besucher aus dem Heim aussperrte, waren erfolglos. Am 21. November besuchte mein Bruder unsere Mutter zum letzten Mal. Am 25. November wurde er informiert, dass sie Covid-positiv ist, was bei
einem Massentest im Heim festgestellt worden war. (Auch er musste sich in der Folge testen lassen, zum Glück war er nicht angesteckt worden - vom Alter her zählen mein Bruder und meine Schwägerin bereits zur Risikogruppe, meine Schwägerin hat außerdem eine Vorerkrankung.)
Allerdings war unsere Mutter nach der Testung rund eine Woche lang symptomfrei. Wir dachten schon, das Virus würde sie verschonen. Dann bekam sie Schübe von
erhöhter Temperatur, dann Fieber, und mein Bruder wurde angerufen, ob er sich von ihr verabschieden möchte. Das Risiko war ihm nach den vorangegangenen Erfahrungen verständlicherweise zu groß, deshalb rief ich im Heim an - und erfuhr, dass ihr Zustand vorläufig noch stabil sei, aber dass sich das rasch ändern könne. Ich ersuchte darum, mir Bescheid zu geben, falls sich ihr Zustand weiter verschlechtern sollte.
Am 11. Dezember wurde ich angerufen, dass es zu Ende geht. Ich fuhr ins Heim, wurde dort in
einen Schutzanzug gepackt, die FFP2-Maske hatte ich ohnehin selbst
dabei, und dann wurde ich in das Zimmer geführt, in dem sie und eine
zweite Patientin lagen. Es war beklemmend in dem Raum und es kam mir vor, als würde das Virus die Luft "eindicken". Beide alten Frauen waren nicht ansprechbar, die Zimmerkollegin meiner Mutter röchelte herzzerreißend. Hildekind bekam Sauerstoff und hing am Tropf. Ich streichelte ihre Hände mit Gummihandschuhen und spielte ihr von meinem Handy (mehrmals) ein ganz besonderes Lied vor (das mir Edi extra für diesen Zweck draufgespielt hat).
Abschiedsrituale:
Vor vielen Jahren haben meine Eltern eine
Single gekauft -
Glory Halleluja (Battle Hymn Of The Republic) in der Version, die
Andy
Williams bei der Beerdigung von Bobby Kennedy sang.*) Es wurde einst zum Lieblings-„Weihnachtslied“ meiner Mutter, und halb im Scherz, halb im Ernst sagte sie damals auch, dass sie dieses Lied hören will, wenn sie eines Tages stirbt. Diesen Wunsch habe ich ihr erfüllt. Sie reagierte zwar nicht auf mich, aber ich hoffe (und glaube), dass sie davon noch etwas mitbekommen
hat... und ich bin froh, dass ich ihr diesen Song noch vorspielen konnte.
Hildekind wirkte sehr geschwächt, ruhig und entspannt auf mich; ich
glaube nicht, dass sie gelitten hat und ich glaube auch nicht, dass sie
noch kämpfte. Einen Tag später, am Abend des 12. Dezember erhielten wir
die Nachricht, dass sie "es überstanden" hat.
*) Ihr könnt euch das Lied HIER anhören - ich denke, es wird euch gefallen: Es ist wunderschön und erhebend - und es passt tatsächlich auch zu Weihnachten. Ich bin immer wieder gerührt, wenn ich es höre, und es verursacht mir eine wohlige Gänsehaut...
Vielleicht versteht ihr nach alledem, dass ich zwar traurig bin, aber zugleich auch erleichtert, dass sie nicht
noch länger dieses beklagenswerte Dasein führen muss. Die Beschäftigung mit ihren alten Bildern, ihrem früheren Leben, hat mir während der vergangenen Tage sehr dabei geholfen, dass sich positive, lebendige Erinnerungsbilder über die letzten Eindrücke von ihr legen..., dass ich sie so quicklebendig in Erinnerung behalten kann, wie sie während des Großteils ihres Lebens war.
Meine Mutter wollte nicht beerdigt werden, ihr Wunsch war es, dass ihre Urne neben der meines Vaters im hinteren Teil unseres Gartens bestattet wird - im sogenannten "Sternengarten". Diese Bestattung wird aber vermutlich erst im nächsten Frühling stattfinden. Es wird zuvor noch ein weiteres Abschiedsritual geben, das einen Ersatz für eine gemeinsame Verabschiedung darstellen soll: Wir haben alle Freunde und Verwandten gebeten, am Sonntag, dem 27. Dezember, um 19 Uhr eine Kerze für Hilde anzuzünden und in Gedanken von ihr Abschied zu nehmen. Die Idee habe ich von meiner Freundin Moni, die vor kurzem erst ihre Mutter verloren hat - und auch ihrer haben wir auf diese Weise gedacht. Dieses gemeinsame an an einen Menschen Denken hat etwas Verbindendes und Tröstliches.
Du bist
nicht mehr da, wo du
warst,
aber du
bleibst in unserem Herzen.
Ihr Lieben, das war heute viel Text, ich weiß, aber es ging ja auch um ein langes Leben. Und ich hoffe, ich konnte euch mit meinem Beitrag verständlich machen, weshalb ihr mir nicht "viel Kraft" wünschen müsst. (Ich weiß, manche werden es dennoch tun, weil sie nicht alles gelesen haben... 😉)
Die Phase, in der ich die meiste Kraft benötigt habe, war die, als meine Mutter nach ihrem Sturz im Februar 2012 in der Intensivstation lag - und kurz danach, als ich mich um den Geriatriezentrumsplatz und um einen Platz im Pensionistenheim kümmern musste, während im Büro alles drunter und drüber ging. Ebenso kraftraubend war die Phase im Herbst 2013, als Hildekind von einem Krankenhaus und Pflegeheim ins nächste musste und ich sie in den unterschiedlichsten Bezirken Wiens besuchte, ohne zu wissen, wie es nun mit ihr weitergeht. Und dann jedes Mal, wenn es hieß, dass es möglicherweise zu Ende geht. Ohne die Unterstützung durch meine Familie hätte ich diese Zeiten nur schwer überstanden.
Das nun ist ein Abschluss... die Möglichkeit, wirklich Abschied zu nehmen... von der Frau, die einmal meine Mutter war und genauso von dem "Hilde-Kindchen", das hilflos im Pflegebett lag. Was ich nun vor allem brauche, ist nicht mehr Kraft, sondern noch etwas mehr Zeit. Denn ich will ein Fotobuch über das Leben meiner Mutter basteln. Diese Zeit werde ich mir also jetzt während der nächsten Wochen nehmen. Kann sein, dass ich zwischendurch das eine oder andere Posting vom Stapel lasse oder Blogrunden drehe, kann aber auch sein, dass ich weder das eine noch das andere schaffe. Ich will mich da nicht einschränken, aber auch nicht unter Druck setzen.
In jedem Fall möchte ich euch danken, dass ihr hier gewesen seid und durch das Lesen dieses langen Textes (oder zumindest einigen Passagen des Textes 😉) Anteil genommen habt. Ich möchte euch außerdem heute schon wunderschöne Weihnachtstage wünschen - und sicherheitshalber auch gleich einen guten Start in das Jahr 2021. Macht es euch schön und gemütlich!
🎄🕯️🎅🏻❄️⛄❄️🎅🏻🕯️🎄
Herzliche Rostrosengrüße
am Abend des 4. Advent,